Artificial Vision 2009
…war der Titel eines Symposiums, dass Im September 2009 in Bonn stattfand.
(Auszug aus der Pressemeldung)
Ein Chip für das Auge: Sehprothesen auf dem Prüfstand der Forschung
Mobil sein und sich orientieren können, ein unabhängiges Leben führen, Gesichter erkennen und lesen können – sehbehinderte oder erblindete Patientinnen und Patienten mit degenerativen Netzhaut-(Retina-)Erkrankungen würden diese Fähigkeiten gerne zurück gewinnen.
Das zeigte eine ältere Umfrage. Vor zehn Jahren hatte eine Forschergruppe unter anderem die Erwartungen von Patienten an einer elektronische Sehprothese („Retina-Implantat“) untersucht.
Heute erscheinen diese Wünsche der Patienten nicht mehr utopisch. Das belegen die Präsentationen bei dem internationalen Symposium „Artificial Vision“ am 19. September 2009 im Bonner Wissenschaftszentrum. Veranstalter sind die „Retina Implant Foundation“ und die „PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung von Blindheit“, eine Stiftung der Patientenorganisation PRO RETINA Deutschland e.V.
Seit mehr als 20 Jahren tüfteln Wissenschaftler an Sehprothesen. Vor allem in Deutschland wurde diese Forschung intensiv gefördert, weil Wissenschaftler und Patienten in starker Allianz die Projekte gemeinsam vorantrieben. Sie konnten die Politik überzeugen, entsprechende Fördermittel bereit zu stellen.
„Wir wollten damals nicht nur Hightech für die Erforschung des Weltraums und für die Verteidigung, sondern endlich Hightech für die Menschen“, erinnert sich Professor Rolf Eckmiller, Neuroinformatiker an der Universität Bonn und einer der Pioniere auf dem Gebiet.
Diese Investition trägt jetzt Früchte. Die deutschen Konsortien spielen auf ihrem Forschungsgebiet in der Champions League: Drei der vier Forschergruppen, die ihre klinischen Ergebnisse in Bonn präsentieren, stammen aus Deutschland.
Wie diese Präsentationen zeigen, vermitteln alle elektronischen Sehhilfen Seheindrücke, sogenannte Phosphene. In einer US-Studie konnten die Patienten hell und dunkel unterscheiden sowie Bewegungen und größere Objekte wahrnehmen. Und es gibt erste Berichte der deutschen Forschergruppe um Professor Eberhart Zrenner von der Universität Tübingen, dass auch die Lesefähigkeit nicht nur ein frommer Wunschtraum ist: Einzelne Patienten können Buchstaben lesen, wenn diese acht Zentimeter groß sind.
„Wir befinden uns auf der Zielgeraden“, erklärt Professor Peter Walter von der Universitätsaugenklinik Aachen, der wissenschaftliche Leiter des Symposiums „Artificial Vision“. „Die letzten Studien vor der Markteinführung sind angelaufen oder werden jetzt anlaufen“, resümiert er den derzeitigen Stand. Bei diesen Untersuchungen geht es um die Langzeitverträglichkeit der Implantate und deren Nutzen im täglichen Leben. Die Hersteller gehen davon aus, dass die Prothesen im Jahr 2011 ihre Zulassung erhalten.
Entsprechend groß ist das Interesse der Betroffenen. „Im Vergleich zu unserer alten Umfrage von vor zehn Jahren sind die Vorstellungen der Patienten aufgrund der klinischen Studien konkreter geworden“, sagt Helma Gusseck, die Vorsitzende der Stiftung Retina-Implantat. Gusseck, auch Vorsitzende der PRO RETINA-Stiftung leidet selbst an Retinitis Pigmentosa, einer degenerativen Netzhauterkrankung, und kann nur noch hell und dunkel unterscheiden. Für sie sorgen die Forschungsergebnisse für Entspannung: „Man kann quasi in Ruhe erblinden, weil man weiß, dass die Systeme bald ausgereift sind und wir daher eine Option haben.“
Die Entwicklung ist allerdings noch lange nicht am Ende – ganz im Gegenteil. „Wir sehen einen Wettlauf der Systeme“, sagt Peter Walter. Bei einem System, dem subretinalen Implantat, wird der Chip unter die Nervenzellschicht in der Netzhaut eingepflanzt. Dort empfängt er, den Photorezeptoren in der Netzhaut ähnlich, Lichtimpulse, wandelt sie in elektrische Signale um und überträgt diese auf die Nervenzellen der Netzhaut. Nach diesem Prinzip funktioniert die Sehprothese der Gruppe von Eberhart Zrenner in Tübingen sowie die Prothese einer US-Wissenschaftlergruppe um Joe Rizzo und Shawn Kelly vom Boston Implant Project in Cambridge, Massachusetts.
Bei dem sogenannten epiretinalen Implantat wird der Chip auf der obersten Nervenzellschicht fixiert. Er empfängt Daten von einer kleinen Kamera an einer Brille, die der Patient trägt, und wandelt diese ebenfalls in Impulse für die Nervenzellen um. Nach diesem Prinzip funktionieren die Prothesen der beiden anderen deutschen Gruppen. Das eine System (IRIS) wurde von der Bonner Firma IMI entwickelt, das andere (EPIRET3) von einem Forscher-Konsortium. In ihm arbeiten Wissenschaftler der RWTH Aachen sowie vom Fraunhofer Institut für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme mit Ärzten der Universitätsaugenklinik Aachen um Peter Walter zusammen.
Neben diesen verschiedenartigen Systemen, die sich auch noch in weiteren Details unterscheiden, wächst in Laboratorien rund um die Welt schon die nächste Sehprothesen-Generation heran. Das Wissen von Ingenieuren, Informatikern, Biologen und Medizinern vereinigt sich zu neuen Strategien, wie Elektronik und Nervensystem sich miteinander verknüpfen lassen.
Forschergruppen in der Schweiz und in Japan entwickeln beispielsweise Systeme, bei denen der Chip nicht mehr ins Auge implantiert, sondern außen auf der sogenannten Lederhaut befestigt wird, die den Augapfel in der Augenhöhle schützt. Nur noch die Elektroden, welche die Nervenzellen in der Retina stimulieren, werden durch einen kleinen Schnitt in das Augeninnere vorgeschoben. Chinesische Forscher entwickeln Prothesen, die nicht mehr die Nervenzellen der Retina, sondern direkt den Sehnerv stimulieren. Und eine amerikanische Forschergruppe versucht die Sehrinde des Gehirns direkt zu aktivieren.
Ob und wann diese Ansätze jedoch an Patienten erprobt werden, kann derzeit nicht beurteilt werden – die Versuche befinden sich noch im Experimentierstadium.
Auf großes Interesse stoßen auch Ansätze, andere Kommunikationssignale zwischen Nervenzellen nutzbar zu machen: Australische und amerikanische Wissenschaftler arbeiten an Sehprothesen, die keine elektrischen, sondern biochemische Impulse produzieren. Die Prothesen sollen Hirnbotenstoffe (Neurotransmitter) nach räumlich und zeitlich kontrollierten Mustern freisetzen und so die Nervenzellen stimulieren.
Offen ist, ob die Prothesen irgendwann einmal das leisten können, was sich Rolf Eckmiller wünscht: die Gestaltwahrnehmung. „Dies setzt eine lernfähige Prothese voraus, die es schafft, eine Art von Melodie aus Impulsen zu erzeugen, die im Gehirn entsprechend erkannt und einer Gestalt, etwa einer Tasse, zugeordnet werden kann.“ Eckmiller ist davon überzeugt, dass das komplexe zentrale Sehsystem – es nimmt immerhin ein Drittel der Großhirnrinde ein – nur dann eine Sehwahrnehmung leisten kann, wenn über eine hinreichend große Zahl von Nervenzellen die richtige „Melodie“ weitergeleitet wird.
(Quelle: idw)
Weitere Informationen zu diesem bemerkenswerten Symposium der „Retina Implant Foundation“ und „PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung von Blindheit“ finden Sie auch unter: